Review: Alcest – Les chants de l’aurore

Erscheinungsdatum: 21. Juni 2024

Label: Nuclear Blast

Genre: Post- (Black) Metal

Spieldauer: 43:38

Tracklist:

  1. Komorebi
  2. L’envol
  3. Améthyste
  4. Flamme jumelle
  5. Réminiscence
  6. L’enfant de la lune
  7. L’adieu

Seit dem letzten Album sind knapp fünf Jahre ins Land gegangen und in Bezug auf viele Aspekte unseres Lebens, individuell aber auch auf einer weiter gefassten Ebene ist viel passiert. Einige Etappen des Daseins liegen nun hinter uns, neue Wege wurden begangen, neue Horizonte entdeckt und ergründet. Wir sind heute nicht, wer wir waren, die Reise durch die Zeit unserer Existenz in einer abstrakten, doch gleichwohl traumhaften Welt formt ein Gefühl der Schwerelosigkeit, der Unsicherheit und Leichtigkeit gleichermaßen. Und dem müssen wir uns Tag für Tag neu stellen, macht die zwangsläufig voranschreitende Zeit und Existenz unseres Selbst doch keinen Halt vor dem, was vor und hinter uns liegt. Dieser Umstand kann ein mitunter ängstliches Gefühl hervorrufen. Aber leben müssen wir trotz allem mit ihm und unser Umgang mit all dem, ist es, der am Ende darüber mitentscheidet, wohin uns diese Pfade führen.

Und damit wollen wir zum heutigen Album kommen – Les chants de l’aurore. Es ist wahrlich nicht einfach, passende Zeilen zu finden, die dem Gefühl, dem Wesen der Musik von Alcest gerecht zu werden – versuchen werden wir es hier trotzdem. Wer sich mit dieser Band, aber auch generell mit den Projekten von Stéphane Neige Paut, auseinandergesetzt hat, der wird merken, dass es kein festgeschriebenes musikalisches Programm gibt. Im Gegensatz zu Bands, die beispielsweise ein Banger-Death Metal-Album im relativ immergleichen Stil nach dem nächsten raushauen (was nichts Schlechtes ist, um es klar zu kommunizieren), sehen wir hier von Album zu Album eine Entwicklung. Diese Entwicklung soll nicht in positive oder negative Richtungen beurteilt werden, ob ein Album eher gut oder eher schlecht ist, das kann jeder selbst entscheiden, wenn er das Album anhört, dafür braucht es kein Review, aber sie soll an diesem Punkt, anlässlich des Releases des mittlerweile siebten Albums, eingeordnet werden. Daher ein kurzer Rückblick auf das Vergangene; mit der ersten Demo Tristesse Hivernale wurde noch wirklich Black Metal gespielt, obwohl auch hier, in der musikalischen Herangehensweise schon, zumindest im Nachhinein, deutlich wurde, dass es sich nicht um einen konservativen Musiker handelt. Während Le secret als EP den künftigen Weg und Stil von Alcest einläutete, wurde mit Souvenirs d’un autre monde gezeigt, dass der Black Metal überwunden wurde und die Zukunft von Band und Musiker in einem anderen Bereich liegt, einem solchen, der bisher in dieser Form nicht existent war. Es folgten zwei Alben, Écailles de lune und Les voyages de l’âme, welche diesen Stil, der folgend als Blackgaze bezeichnet wurde, weiter definierten und ausformten. Dann aber betrat ein Release den Raum, welches sich wesentlich weiter als das Vorangegangene emanzipierte; Shelter wurde seiner Zeit, wenn die Erinnerung nicht trügt und auch heutige Stimmen im Rückblick dazu mit einbezogen werden, nicht nur positiv aufgegriffen. Die Frage, die sich einige, zu dieser Zeit auch ihr heutiger Schreiber, gestellt haben, richtete sich danach, wo da denn noch der Metal, geschweige denn der Black Metal in zumindest subtiler Form bleiben würde. Für den Komponisten war es eventuell nur eine gefühlsmäßige, eine stiltechnische Entscheidung, vielleicht die Lust nach etwas anderem, wer weiß, was er sich dabei gedacht hat. Aber es lässt sich sicherlich sagen, dass dieses Album, wie gesagt, eine gewisse Emanzipation von dem Vergangenen darstellt. Dabei könnte behauptet werden, dass Shelter das eigentlich am wenigsten besondere Album sei, weil dieser Stil, heruntergebrochen auf Shoegaze und ähnliche Vertreter, schon vor Alcest existent war und einige Hörer hatte. In der Entwicklung, die dieses Projekt hinlegte, war es jedoch etwas Besonderes und es zeigte einen ganz neuen Pfad auf, auf der „musikalischen und gefühlsbasierten Reise mit und durch Alcest“, wenn man so will.

Warum ist dieses Album nun so wichtig, geht es doch eigentlich um das neue Album? Nun, die Parallelen sind recht offenkundig. Nach Kodama, dem Rückbezug auf präshelter’sche Zeiten, und Spiritual Instinct, einem modernen, in Teilen aus der Alcest-Tradition ausbrechenden Album, dessen Wesen in einem anderen Schreiben betrachtet werden sollte (sonst wird es hier kein Ende finden), nach diesen Alben kommt nun Les chants de l’aurore. Vor allem im Hinblick auf Shelter, aber auch durch die vorab veröffentlichten Singles L’envol und Flamme jumelle löst das, was wir vorfinden, keine überwältigende Verwunderung aus, aber es wagt einen weiteren, neuen Schritt auf dieser musikalischen Reise, die sich Alcest nennt. Dabei verbleibt das Grundgefühl, der bekannte emotionale Kern der Musik ähnlich. Das neue Album lädt wie alle andere zum Träumen, zum in sich Kehren, gewissermaßen sicher auch zum Reflektieren ein. Und was es bietet, ist ein sicherer Ort (ein Shelter?), eine Zuflucht zum Verweilen auf dieser langen Reise, die wir zwangsläufig mit all seinen schönen, aber auch tragischen Etappen bestreiten müssen. Bildlich gesprochen befindet sich dieser Ort zwischen Bergen und Tälern, vor dem Horizont, den es zu erreichen gilt. Die Sonne, die den Körper wieder aufwärmt, das weiche Gras unter den Füßen, der Tau auf den Blättern, der die Umstände abkühlt. Völlig romantisiert hat ihr Schreiber dieses Album, im Endeffekt ist es doch auch nur Musik, ein Produkt, das vermarktet wird. Alles richtig, aber gleichermaßen ließe sich vorschlagen, wie bei vielen anderen Dingen im Leben, das Beste daraus zu ziehen. Und dieses Album hat eine große potentielle Energie, die freigegeben werden kann, wenn sie angenommen wird.

Insgesamt ist Les chants de l’aurore noch einmal verträumter als die vorangegangenen Alben. Die Moderne macht auch hier keinen Halt, weder im Sound noch im Gesamtkonzept der musikalischen Elemente. Für jene, die bisher mit Alcest viel anfangen konnten, die werden auch hier nicht enttäuscht sein. Nach so vielen Liedern, die den Hörer vom sprichwörtlichen Hocker hauen konnten, hat der überwältigende Effekt, zumindest für ihren Schreiber, der viel Zeit mit der vergangenen Musik, vor allem der früheren Jahre, verbracht hat, nachgelassen. Das schmälert jedoch die Erfahrung, die beim Hören dieses Albums einhergeht, solche Gefühle, wie jene, die zuvor beschrieben wurden. Les chants de l’aurore erweitert gewissermaßen das Vorangegangene um eine neue Etappe, einen neuen Rückzugsort auf einer Reise. Daher könnte konsequenterweise entschieden werden, dass er nicht regelmäßig oder zwischendurch einfach so aufgesucht werden sollte, sondern bewusst und in besonderen Zeiten, in welchen es eine solche Energie braucht und die Umstände erlauben, sie aufzunehmen.

Im Hier und Jetzt ist es ein leicht schwüler, doch etwas verregneter und vor allem grauer Mittag. Was tut sich, jetzt, wo sich die letzten Klänge von L’adieu in die gegebenen Umstände einbetten? Die wahrgenommene Sättigung erhöht sich, es wird ruhiger im Innern und eine positivere Energie macht sich breit. Nochmal kurz durchatmen und gen Horizont blicken. Eine neue Etappe der Reise beginnt.    

 

 

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