Für die Kinder der Nacht kann ein Termin um elf Uhr schon sehr anstrengend sein, zumal wir uns auf einem Festival befinden. Aber, das muss man sagen, und wurde auch von verschiedenen Bands immer wieder hervorgehoben, es klappt doch weitestgehend. Daher konnte sich der Newcomer-Wettbewerb-Gewinner Re.mind aus Leipzig zu besagter Uhrzeit auch über einige Menschen sichtlich freuen. Ein Puls-Piepsen als Intro machte es spannend, die Keyboarder setzten ein und dann erschien auch Sänger Marko Bonew mit einem eleganten Hüpfer auf die Bühne. Der Slot war von der Zeit her nicht so üppig, deshalb gab es kaum Zwischenansagen, sondern nur ein „wir freuen uns riesig, für Euch den Opener zu spielen“, neben einem routinierten Auftritt mit, so viel Abstrich muss sein, nur halbherzigen Mitsingparts. Aber als ein erstes Mal auf solch großer Bühne, da kann man gespannt sein, wie es mit dieser Band weitergeht. Immerhin nicht umsonst einer der beiden Gewinner des M’era-Luna-Newcomer-Wettbewerbs. The evil, we create… das lasse ich mal so stehen.
Seit 2022 ist die zweite Stage, die Clubstage, aus dem Hangar ins Freie gerückt und diese eröffneten die Oldenburger Steril mit Sänger Mähne Meenen, die zum ersten Mal auf dem M’era waren. Mit einem breiten Grinsen, den Schal locker um den Hals gelegt, begrüßte er nach dem ersten Song das Publikum mit „Leute… um elf Uhr auf einem Rockfestival?“. Fast schon wie in Ekstase tanzte er über die Bühne, in seinem eigenen Stil und den Schal herumwerfen. Die Bässe können endlich ihre Schalldruckfähigkeit ausleben. Wir sind richtig angekommen auf dem Festival. Eine sehr schöne Eröffnung der Clubstage mit ordentlich Electro-Industrial.
Leider gibt es am Anfang nur kurze Slots für die Bands, gefühlt sind diese nach dem Lesen dieses Absatzes schon vorbei. Entscheidungen treffen, das ist sportlich und nötig bei dem Line-up und den Spielzeiten. Null Minuten Wechselzeit zwischen den Bühnen, teilweise später dann Überschneidungen, die nicht immer zur Freude der Fans ausfielen. So konnten wir Steril nicht zu Ende schauen, obwohl nur wenige Songs gespielt wurden, wartete doch schon Schwarzer Engel auf uns. Mit einem Rednerpult auf der Bühne sah das Set nicht unbedingt wie ein Musikauftritt, sondern eine Tribüne für einen Politiker aus. Dies sollte sich ändern. Einheit ist Stärke als Opener ließ keine Fragen offen. „M’era Luna, seid ihr bereit zu feiern?“ – Natürlich. Mit Endzeit feierte das textsichere Publikum, als die zwei angereichten Gewehre von Sänger Dave Jason schwarze Papierschnipsel übers Publikum abschossen. Schwarze Sonne, der Klassiker aus 2013, lässt das nun größere Publikum mitsingen und mit der Hitsingle im Ohr gehen wir rüber zur Clubstage, denn dort spielte gleich Rroyce.
Bei schönem Wetter kam die schwarze Szene schon etwas arg ins Schwitzen. Rroyce ist eine Band, die den Wave-Synthi-Pop aus den 80er Jahren irgendwie in die Neuzeit gerettet hat, der Soundcheck war schon ein kleines Konzert, a-cappela tönte die Stimme von Sänger Casi über den Platz vor der Clubstage. Die Publikumsverbundenheit merkte man sofort, nun ja, gehören sie ja auch seit über zehn Jahren zum bekannteren Teil der Szene. Sänger Casi ging ans Publikum, stieg an die Absperrung und verteilte Flyer für kommende Konzerte, flirtete mit den Kameras der Fotografen und bekam eine Blume aus der ersten Reihe gereicht, vermutlich wurde sie für ihn beim Armbrustschießen auf dem Mittelaltermarkt für ihn geschossen.
Auf der Mainstage machten sich derweil Hell Boulevard bereit. In den letzten Jahren zu einem Publikumsliebling geworden, sind die Schweizer auf einigen Festivals dieses Jahr vertreten. Ein wenig erinnern sie mich an Lord of the Lost, wen wundert’s – zeitgemäßer Goth-Dark-Rock, gehen sie doch gut ins Ohr. She Just Wanna Dance mit Stick-drehendem Schlagzeuger Avinash Moser kam noch, aber danach doch eine kleine, ungewollte Pause, da der Bassist mit technischen Problemen zu kämpfen hatte. Sänger Matteo versuchte sich als Erzähler, was er aber lieber nicht sein wollte und so kündigte er neben dem üblichen „Thanks for being here“ auch zwei Konzerte zum zehn-jährigen Bestehen mit Lacrimas Profundere in Hamburg und Leipzig an. Mit Satan in Wonderland war die kurze Unterbrechung zu Ende. Das Manifest und der Lieblingssong der Band Zero Fucks Given und das Bekenntnis In Black We Trust, die Hymne von Hell Boulevard, machten das Verschnaufen völlig zunichte. Not Another Lovesong (Requiem), kein nettes Liebeslied vom aktuellen Album, sangen alle mit, dieser Song beendete auch die vier-jährige Pause der Band.
Wenn schon von weitem vom Schalldruck der Bassboxen die Lungenbläschen hüpfen, dann ist man definitiv in der Nähe der Clubstage und die Band ist Centhron. Vorher wurde noch der Countdown heruntergezählt und dann gingen auch die Aggrotech-Fans im Publikum ab. Gasmasken als Deko und häufiges Zunge-Rausstrecken des Sängers Elmar Schmitt sorgten für ein Wohlfühlgefühl beim Publikum. Passend dazu etwas derbere Songs wie Cunt oder Dreckstück. Einige im Publikum brauchten viel Platz beim Tanzen – Industrial Dance eben. Aber was soll man auch anders machen, wenn der Beat so ballert?
Lacrimas Profundere ist auch so ein Highlight, nicht nur in der Live-Qualität, sondern auch in puncto Publikumskontakt. Das Spiel von Sänger Julien Larre alleine mit den Fotografen im Graben ist einfach sehenswert, und wenn diese nach drei Songs seine „Laufstrecke“ freigemacht haben, ist er erst recht nicht mehr zu bremsen. Für manche Musiker ist selbst die Mainstage einfach zu klein. Unseen als erster Song war da nicht so ganz passend, die Präsenz ist einfach nicht zu übersehen. Larre zeigte, wie von ihm schon fast gewohnt, vollen Einsatz, mit „Boxenhopping“, in den Graben hüpfen und sich auf die Absperrung stellen, die Fans halfen gerne und reichten ihm die Hände. Dabei kurbelte er den Bierumsatz sicherlich ordentlich an, als er ins Publikum schrie, dass er in „Germany the beer [liked]“ und abfragte, wer es ihm gleichtut, bevor die lautstarke Antwort direkt in Obscurity überging. Und er war einer der wenigen, die sich direkt bei den Securitys, Fotografen und den ganzen Menschen, die hinter der Bühne arbeiten, vor Publikum bedankte. Der brandneue Song Shimmering durfte nicht fehlen. Glücklich wurde eine Dame im Publikum, die Larre auserkor, mit ihm direkt mittendrin in der Crowd zu tanzen. Wie geschrieben, die Bühne ist einfach zu klein für manche Musiker… Lacrimas Profundere reißen eben auch schon am frühen Nachmittag die Bühne ab. Like Screams in Empty Halls vor vollem Platz auf dem M’era hatte schon eine gewisse Ironie…
Schwierig für mich nun den Sprung auf die Clubstage hinzubekommen, auf der mit S.P.O.C.K., die tatsächlich wegen des Namens der Person, die ohne Punkte zusammengeschrieben wird, Probleme bekamen (ja, schon lange her…), wieder das Publikum in Richtung Elektro wiesen, genauer in Richtung des „Space-Pops“. Aus Schweden kommen sie und begeistern nicht nur mit den an Sci-Fi-Serien-Themen angelehnten Titel, Texten und Outfits auch schon lange das Publikum. Das Imperium-Logo aus Star Wars auf dem Rücken, das Tyrell Corporation-Emblem aus Bladerunner auf der einen und der Battlestar Galactica-Patch auf der anderen Schulter zeigten, dass sich die Musik nicht nur auf die namensgebende Serie bezieht, auch wenn es bei den Patches mit dem Terran Empire und der United Federation of Planets (sogar zweimal) einen deutlichen Star Trek Fokus gab. Der letzte Song Never trust a Klingon wurde vom Publikum mitgesungen, während es sich Sänger Alexander „Android“ Hofman nur noch im Unterhemd nicht nehmen ließ, dem Publikum auch sein Mikro hinzuhalten.
Da war das wieder mit der Bühnen-Wechsel-Entscheidung… Die Herren Wesselsky starteten schon auf der Mainstage und fast hätten wir den Beginn verpasst. „Hallo, M’era Luna, wir starten mit etwas Gymnastik in den frühen Nachmittag“. Das ist eine Ansage, Hurra, wir leben noch der passende musikalische Einstieg. Etwas warm werden musste Herr Wesselsky beim ersten Song schon etwas, aber das tat keinen Abbruch, denn es ging mit der Familienhistorie „hatte Glück mit der Familie, meiner Wahl-Familie“ und danach musikalisch mit der „Ballade“ Windkind weiter. „Na, heute schon gesündigt? Es ist ja auch nicht leicht, ein Gott zu sein„, die Worte nimmt man ihm einfach ab, ebenso die textliche Veränderung von „sing Halleluja“ zu „sing M’era Luna“. Wesselsky ist eben ein Poser und zugleich ein Mensch, der beim Text-Aussetzer auch zugibt, dass er einen Fehler gemacht hat und sich am Ende des Lieds Jordan bei der Band dafür entschuldigt. „Fehler machen Leute“, das ist Größe auf der Bühne, das ist eben auch live. Er geht auch her und macht zur „Belohnung“, wenn das Publikum mit dem Herzen dabei ist und nicht nur mit dem Handy, von der Bühne aus drei Polaroids als Erinnerung. Das habe er sich bei Eisbrecher abgeschaut… Die Kurzumfrage „wer denn nach 2001 geboren ist?“ ergab, dass ja Hoffnung bestünde, „Hallo Jugend, schön, die Szene lebt“ war die Antwort. Mit Wir sterben jung ging es für uns schon weiter zur Clubstage…
… zu The Cassandra Complex, in die Wave / Elektro-Punk Ecke und zu einer Band, die auch schon vor langer Zeit gegründet wurde. Rodney Orpheus, das Band-Urgestein trat im noch minimalistischeren Set nur mit Synthi-Computer auf, auf dem, wie heute alles machbare an Musik, am Anfang meiner Meinung nach mit zu viel Hall gearbeitet wurde. Wo sind die Live-Gitarren geblieben? Die prägnante Stimme, mit leichtem Elvis-Touch, hob sich über den Nebel, der die Bühne ins Unsichtbare tauchte. Sehr schöner Effekt am Nachmittag. Keine große Show, schlicht im Hemd und Anzug nahm er das Publikum mit in die sehr eigene, wieder erkennbare Musikwelt. Schnörkelloser Sound im 40-jährigen Jubiläumsjahr.
Oomph! Für Aussprachelegasteniker wie mich, ist alleine der Bandname eine Herausforderung (Es ist eigentlich ganz einfach: Umpf! Anm.d.Red.). Eine Herausforderung war auch für das M’era, das Oomph! hier zum ersten Mal mit neuem Sänger auftrat. Nun, für uns nicht neu, denn wir haben sie ja schon mehrfach gesehen. Natürlich mit anderer Stimmfarbe, natürlich mit eigenem Stil, so sollte es ja auch sein. Vergleichen ist immer bedenklich, spielen doch so viele Faktoren eine Rolle. Manche Songs, gerade die Klassiker der Band, hörten sich dadurch wie ein Cover an, aber man sollte sich von der Unzucht befreien. So wechselten sich Labyrinth und Sandmann mit den Singleauskopplungen Wem die Stunde schlägt und Nur ein Mensch ab. Uns überzeugte der Schulz insgesamt. Mit den protzigen Pelzmänteln bei 30 Grad auf dem Platz war alleine das schon mutig. Aber nur für einen Song, keine Angst, danach kam die Abendgarderobe zum Vorschein, natürlich in schwarz. Die „unzüchtigen“ Gesten in Richtung Publikum wurden auch angenommen und schon schaffte es die Band, eine Verbindung zur tanzenden Meute auf dem Platz.
Wenn ein Flugzeug über der Bühne hängt, sich links und rechts Flugabwehrgeschütze breit machen, die Handsirene am Mikroständer, der selbst ein Maschinengewehr darstellt, dann ist es unschwer zu erraten, wer da kommt. Funker Vogt rückte an und wollte mit neuem Sänger, dem Dritten mittlerweile, den Platz abfackeln, selbst die Fotografen durften nicht in den Fotograben. Doch dann… warten… und warten… der Zeitslot wurde enger. Techniker liefen auf der Bühne hin und her, dort wurde geschraubt, gesteckt, hier wurde eine Grübelhaltung eingenommen. Der Slot wurde enger. Das Publikum gab die ersten technischen Prognosen ab. Letztes Jahr noch als Sänger von Intent:Outtake auf dem M’era Luna, sollte das für dieses Jahr die Premiere für Bastian Polak werden, öffentlich zu zeigen, dass er der Funkersprache mächtig ist, nachdem schon dieses Jahr das neue Album mit ihm erschienen ist. Der Auftritt selbst wurde schließlich abgesagt, das technische Problem konnte in der Slotzeit nicht mehr gelöst werden; zugleich wurde aber direkt die Zusage für das M’era 2025 gegeben.
Weil auf dem M’era Luna viele Bands gespielt haben und wir über alle Bands berichten wollen, haben wir den Bericht von Samstag aufgeteilt. Hier geht zu zu Teil 2.
Mehr zum diesjährigen M’era Luna findet ihr hier:
- Festivalbericht: M’era Luna 2024 – der Sonntag Teil 2
- Festivalbericht: M’era Luna 2024 – der Sonntag Teil 1
- Festivalbericht: M’era Luna 2024 – Freitag
Frühere Beiträge zum M’era Luna findet ihr hier:
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